Sensationen sind in der Wissenschaft selten – aber die Entdeckung des Higgs-Teilchens am Large Hadron Collider (LHC) war eine. „Ich glaube, wir haben es!“, freute sich der damalige CERN-Generaldirektor Rolf Heuer am 04. Juli 2012 vor laufenden Kameras im prall gefüllten Hörsaal. Die ganze Physikwelt feierte den Erfolg einer fast 50 Jahre langen, abenteuerlichen Suche. Aber mit der Entdeckung fing die Arbeit erst richtig an...
Das Higgs-Teilchen und der Ursprung der Masse
Was macht dieses Teilchen so besonders? Es war das letzte noch fehlende Teil im Standardmodell der Teilchenphysik, dem fundamentalen Regelwerk der kleinsten Bausteine der Materie, das alle Eigenschaften dieser Bausteine und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken, beschreibt. Im Jahr 1964 wurde das Higgs-Teilchen von Peter Higgs vorhergesagt als eine Anregung des Brout-Englert-Higgs-Feldes (BEH-Feld), benannt nach den drei theoretischen Physikern Peter Higgs, Robert Brout und François Englert, die es postuliert und erdacht haben. Dieses Feld verleiht allen anderen Teilchen ihre Masse. Kein Higgs – keine Welt, wie wir sie kennen.
Um zu verstehen, wie dieses Feld anderen Teilchen eine Masse geben kann, muss man sich vorstellen, dass das ganze Universum von eben diesem Feld durchzogen ist. Verschiedene Teilchen verhalten sich unterschiedlich im Feld: manche reagieren kaum bis gar nicht und fliegen einfach hindurch. Diese Teilchen nehmen wir als masselos oder zumindest sehr leicht wahr. Manche interagieren wiederum stark, sodass wir diese Teilchen als schwer wahrnehmen - sie haben viel Masse.
Detektivarbeit mit Teilchenspuren
Nur: wie findet man eigentlich Teilchen? Hier kommt der Large Hadron Collider ins Spiel. Der riesige Beschleuniger am Forschungszentrum CERN bei Genf schleudert Teilchen aufeinander, und hochkomplexe Detektoren zeichnen auf, was bei den Kollisionen passiert. Daraus können Wissenschaftler*innen, darunter sehr viele aus Deutschland, Rückschlüsse darauf ziehen, welche Teilchen es gibt.
Das Higgs-Teilchen selbst bleibt allerdings unsichtbar, weil es in Bruchteilen von Sekunden in andere Teilchen zerfällt. Nur diese Teilchen oder diejenigen, in die sie wiederum selbst zerfallen, sind in den Detektoren zu sehen. Diese riesigen Kameras machen bis zu 40 Millionen hochpräzise Bilder pro Sekunde, und ausgeklügelte Rechenvorgänge suchen daraus diejenigen heraus, auf denen interessante Teilchenspuren zu sehen sind. Erst als sie genug von diesen Bildern gesammelt und ihre Ergebnisse miteinander verglichen haben, waren die Forschenden sicher, dem Higgs-Teilchen auf die Spur gekommen zu sein.
Higgs... und weiter?
Die Entdeckung vor zehn Jahren war allerdings erst der Anfang einer detaillierten Untersuchung des Higgs-Teilchens und der neuen Bereiche, die seine Entdeckung erschlossen hat. Mit seiner Hilfe bekommen die Forschenden eine ganz neue Sicht auf die Welt der kleinsten Teilchen. Einerseits überprüfen sie, ob das Higgs selbst den Vorhersagen des Standardmodells der Teilchenphysik entspricht oder Überraschungen in petto hat. Andererseits suchen sie auch nach Hinweisen auf neue, bisher unbekannte Prozesse. So könnte das Higgs zum Beispiel in Teilchen zerfallen, die im Detektor unsichtbar bleiben – das könnte die heißgesuchte Dunkle Materie sein. Andererseits könnten Zerfälle, die von der Theorie abweichen, neue Erklärungen für das Zusammenspiel von Teilchen und Kräften im Universum liefern – letzten Endes also über die Geschichte unseres Universums.
Allerdings steht die Forschung hier, trotz der zehn Jahre intensivster Untersuchungen und Analysen, noch fast am Anfang. Bisher hält sich das Higgs an seine Vorhersagen, was aber daran liegen könnte, dass für die seltenen Prozesse noch nicht genügend Daten vorliegen. Das wird sich ändern, wenn der Large Hadron Collider nach seiner Umbaupause wieder bei voller Leistung läuft, denn er wird dann noch mehr Daten als vorher produzieren. Das Fernziel der Physikwelt ist eine sogenannte „Higgs-Fabrik“, die die vom LHC aufgeworfenen Fragen und anskizzierten Antworten detailliert beantworten kann.
Mehr Daten für das Higgs
Nach einer über dreijährigen Umbaupause ist der Large Hadron Collider seit diesem Frühjahr wieder in Betrieb. Dank der Reparatur- und Umbauarbeiten am Beschleuniger soll er von nun an für noch höhere Kollisionsenergien und noch mehr Kollisionen sorgen. Auch die Detektoren, an denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt beteiligen, haben während der Pause Upgrades bekommen und sind bereit für die Teilchen, die ihnen der Beschleuniger liefert.
"Das Higgs-Teilchen ist bei weitem das mysteriöseste aller Teilchen, die wir kennen", sagt Beate Heinemann, Professorin für Experimentelle Teilchenphysik an der Universität Freiburg und Direktorin für den Bereich Teilchenphysik bei DESY. "Wir haben zwar in diesen zehn Jahren schon wahnsinnig viel erfahren über das Higgs-Teilchen, aber benötigen wesentlich mehr Daten, um ein tiefes Verständnis seiner Rolle im Universum zu bekommen."
Neben den Rätseln, die das Higgs bereithält, versuchen die Forschenden auch der Dunklen Materie auf die Spur zu kommen, herauszufinden, wo die Antimaterie geblieben ist und wie unser Universum kurz nach dem Urknall ausgesehen hat.
Happy Higgs Discovery Day
Physikalische Institute deutscher Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen organisierten anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Higgs-Entdeckung öffentliche Veranstaltungen. Rund um den 04. Juli 2022, den Jahrestag der Verkündung der Higgs-Entdeckung, konnte das Publikum bei Vorträgen, Ausstellungen oder Virtual Visits in die spannende Welt der Higgs-Forschung eintauchen und Einblicke in die wissenschaftliche Arbeit am Large Hadron Collider (LHC) und seinen Teilchendetektoren gewinnen.
Die folgende Galerie zeigt einige Impressionen von den Veranstaltungen, die anlässlich des Higgs-Jubiläums durchgeführt wurden.